Verfall von Urlaubsansprüchen bei längerer Erkrankung oder Erwerbsunfähigkeit

 

Bislang galt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub, den ein Arbeitnehmer wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder voller Erwerbsminderung nicht im Urlaubsjahr nehmen konnte, bis zum Ablauf des 31.03. des 2. Folgejahres gewährt werden musste. Bestand die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit oder die Erwerbsminderung auch noch im Zeitpunkt des Ablaufes des 31.03. des 2. Folgejahres, ging der Urlaubsanspruch verloren, ohne dass es einer Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers bedurfte.

 

Diese bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Verfall von Urlaubsansprüchen ist nunmehr teilweise aufgegeben unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 22.09.2022 (C 518/20 und C-727/20).

 

Der Bundesarbeitsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 31.01.2023 nunmehr ausgeführt, dass nicht in jedem Fall der Urlaubsanspruch mit Ablauf des 31.03. des 2. Folgejahres bei durchgehender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder voller Erwerbsminderung erlischt.

 

Vielmehr verfällt der Anspruch auf Urlaub 15 Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres nur noch, wenn der Arbeitgeber grundsätzlich seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachkommt.

 

Die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers bestehen darin, dass ihm eine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit auf den Urlaubsanspruch gegenüber dem Arbeitnehmer trifft.

 

Der volle Urlaubsanspruch entsteht gemäß § 4 Bundesurlaubsgesetz nach 6-monatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses und jeweils am 01.01. eines Kalenderjahres. Damit ist der Arbeitgeber ab dem 01.01. eines Kalenderjahres unter der Voraussetzung, dass das Arbeitsverhältnis bereits seit 6 Monaten besteht, dazu verpflichtet bei der Erfüllung des Urlaubsanspruchs des Arbeitnehmers mitzuwirken.

 

Das Bundesarbeitsgericht hat nunmehr entschieden, dass mit Entstehung des Urlaubsanspruchs zum 01.01. der Arbeitgeber seiner Verantwortung im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Urlaubs unverzüglich i. S. d. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB nachkommen muss, um nicht das Risiko zu tragen, dass der Urlaub wegen einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden krankheitsbedingten Erkrankung oder Erwerbsminderung des Arbeitnehmers nicht am Ende von 15 Monaten nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt.

 

Der Arbeitgeber muss daher den Arbeitnehmer zu Beginn des Jahres unverzüglich auffordern, seinen Urlaub zu nehmen und ihm mitteilen und hinweisen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht beantragt. Dabei kommt es im Hinblick auf die unverzügliche Aufforderung darauf an, wann diese Erklärung des Arbeitgebers mit Aufforderung dem Arbeitnehmer tatsächlich zugeht.

 

Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass die Aufforderung und der Hinweis nicht sofort nach der Urlaubsentstehung zum 01.01. erfolgen muss, aber ohne schuldhaftes Zögern. Dabei richtet sich die Zeitspanne, die dem Arbeitgeber zur Vorbereitung und Durchführung der Belehrung des Arbeitnehmers einzuräumen ist, nach den Umständen des Einzelfalls. Grundsätzlich wird man aber davon ausgehen müssen, dass die Belehrung regelmäßig keine besonderen Schwierigkeiten bereitet und dies unter normalen Umständen innerhalb einer Zeitspanne von einer Kalenderwoche (Urlaubs-Woche), d. h. in Anlehnung an § 3 Bundesurlaubsgesetz 6 Werktage bei einer 6-Tage-Woche ausreichend sind.

 

Mithin bleibt dem Arbeitgeber nur anzuraten, grundsätzlich nunmehr zu Beginn eines Jahres jeden Arbeitnehmer aufzufordern, Urlaub zu nehmen und ihm mitzuteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt. Dieses Schreiben muss vom Arbeitgeber bis längstens zum 6. Werktag des neuen Jahres an den Arbeitnehmer übermittelt werden.

 

Das Bundesarbeitsgericht hat auch festgestellt, dass der Arbeitgeber nicht unverzüglich handelt, wenn er dieser Mitwirkungsobliegenheit erst später als eine Woche nach Urlaubsentstehung erfüllt. Etwas anderes kann allerdings dann gelten, wenn beispielsweise zum Jahresbeginn Betriebsferien sind. Dann beginnt die Frist zur unverzüglichen Mitwirkungshandlung mit Ablauf der Betriebsferien und damit 6 Tage nach Beendigung der Betriebsferien. Es muss auch hier der Arbeitnehmer aufgefordert werden, seinen Urlaub zu nehmen unter Mitteilung des Verfalls des Urlaubs nach Ablauf des Kalenderjahres bzw. Übertragungszeitraumes.

 

Beispiel:

Nachdem dies alles sehr abstrakt gilt, möchten wir die Vorgehensweise anhand des vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Falles kurz darstellen:

 

Der Arbeitnehmer war seit 01.11.1989 beim Arbeitgeber beschäftigt. Der Arbeitnehmer hatte einen Urlaubsanspruch von 30 Urlaubstagen. Der Arbeitnehmer war zum 18.01.2016 bis zur Beendigung seines Arbeitsverhältnisses am 28.02.2019 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses stritten die Beteiligten um Ansprüche des Arbeitnehmers auf Urlaubsabgeltung für das Kalenderjahr 2016.

 

Der Arbeitnehmer machte Urlaubsabgeltung für das gesamte Jahr 2016 gegenüber dem Arbeitgeber geltend und damit für 30 Urlaubstage.

 

Die Vorinstanzen hatten dem Arbeitnehmer die Klage abgewiesen.

 

Lösung:

Das Bundesarbeitsgericht hat dem Arbeitnehmer einen Urlaubsanspruch für 5 Tage zugesprochen. Unter Berücksichtigung der folgenden Begründung: (sehr vereinfachte Darstellung)

 

Am 01.01.2016 ist der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers in Höhe von 30 Urlaubstagen für das Jahr 2016 entstanden. Am 18.01.2016 war der Arbeitnehmer bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt.

Zwischen Montag, dem 04.01.2016 und Freitag, dem 15.01.2016 lagen 10 Arbeitstage, in dem der Urlaubsanspruch hätte erfüllt werden können seitens des Arbeitgebers. 20 Arbeitstage Urlaub konnte der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr nehmen. Diese 20 Urlaubstage waren unabhängig davon unmöglich zu gewähren für den Arbeitgeber, unabhängig von den Mitwirkungspflichten des Arbeitgebers. Der Anspruch auf Abgeltung von 20 Urlaubstagen für 2016 war damit spätestens am 31.03.2018, ohne dass es einer Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers bedurfte, verfallen.

 

Der Arbeitgeber musste seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht vor dem 08.01.2016 erfüllen. Bis dahin waren lediglich fünf Arbeitstage verstrichen. Mit dem 08.01.2016 und dem Krankheitsbeginn am 18.01.2016, d. h. im Zeitraum von Montag, 11.01.2016 bis 15.01.2016, hätte der Urlaub erfüllt werden können. Weil der Arbeitgeber seinen Mitwirkungspflichten (Aufforderungs- und Hinweispflicht) nicht nachgekommen war, musste er Urlaubsabgeltung für fünf Arbeitstage bezahlen bzw. Urlaubstage bezahlen.

 

In diesem Falle war es für den Arbeitgeber lediglich eine Abgeltung für 5 Urlaubstage.

 

 

Wenn der Arbeitnehmer allerdings erst später im Jahr erkrankt wäre und es möglich gewesen wäre, den Urlaub vollumfänglich in Höhe von 30 Urlaubstagen zunehmen, weil insofern ausreichend Werktage und Arbeitstage bestanden hätten, hätte der Arbeitgeber, weil er seine Mitwirkungspflichten nicht erfüllt hat, den gesamten Urlaub auch nach Ablauf der 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres abgelten müssen.

 

Wir können damit allen Arbeitgebern nur raten, in der 1. Januarwoche den Arbeitnehmer über seine Verpflichtung, den Urlaub zu nehmen, in Kenntnis zu setzen und ihn auch darauf hinzuweisen, dass für den Fall der Unmöglichkeit einer Urlaubsgewährung aufgrund von Arbeitsunfähigkeit u. a. ein Verfall des Urlaubs 15 Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres eintreten kann.

 

 

Hätte also in dem oben beschriebenen Fall der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bis 08.01.2016 hierauf hingewiesen, hätte er für 2016 keinerlei Urlaubsabgeltung bezahlen müssen.

 

Variante:

Wäre der Arbeitnehmer dagegen erst Anfang April 2016 erkrankt und hätte wäre Arbeitgeber seinen Hinweispflichten nicht nachgekommen, wäre der Arbeitgeber zum Ausgleich des gesamten Urlaubsanspruchs für 2016 verpflichtet gewesen und damit für die vollständigen 30 Urlaubstage.

 

 

Für einen etwaigen späteren Nachweis dürfen wir Ihnen empfehlen, diesen Hinweis schriftlich an Ihre Arbeitnehmer zu erteilen, entweder durch persönliche Aushändigung des Schreibens, allerdings dann mit der Empfehlung, sich den Erhalt des Schreibens quittieren zu lassen oder aber durch Übersendung der Mitteilung per Einwurf-Einschreiben an die Arbeitnehmer. Ist der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Ablaufes der Frist zur Mitteilung durch den Arbeitgeber beispielsweise erkrankt oder urlaubsabwesend, empfiehlt sich in jedem Falle die Zustellung des Hinweises rechtzeitig per Einwurf-Einschreiben.

 

Tipp für 2024:

Ein Tipp für das Jahr 2024: Ist in Ihrem Betrieb eine 5-Tage-Woche üblich und sind zu Jahresbeginn keine Betriebsferien vorgesehen, sollte der Arbeitnehmer bis spätestens 06.01.2024 (Zugang beim Arbeitnehmer) darauf hingewiesen werden, dass der Urlaubsanspruch entstanden ist und über den oben beschriebenen Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf von 15 Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres (wenn der 06.01.2024 ein Feiertag ist muss das Schreiben bis längstens 08.01.2024 dem Arbeitnehmer zugehen).

 

Variante 2:

Eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Mitwirkung und Hinweis hätte nicht bestanden, wenn der Arbeitnehmer bereits ab 01.01.2016 durchgehend bis 28.02.2019 arbeitsunfähig oder erwerbsunfähig gewesen wäre.

 

Aus Sicherheitsgründen empfiehlt es sich aber als Arbeitgeber hier grundsätzlich die Mitwirkungspflichten durch die Versendung eines Schreibens in der ersten Arbeitswoche des neuen Kalenderjahres nachzukommen um damit etwaige spätere Streitigkeiten mit dem Arbeitnehmer zu verhindern.

 

 

Wir unterstützen und beraten Sie gerne in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten. Zögern Sie nicht sich mit uns in Verbindung zu setzen. Schreiben Sie uns einfach eine Email über kanzlei@heinicke-eggebrecht.de oder rufen Sie uns an unter +49(0)89 552261-0.